Funktionselement statt Platte pur – Fertigteile mit Innenleben (Teil 1)

Die Veränderungsjahrzehnte sind angebrochen: Klima, Ernährung, Gesundheit, Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Demografie, Migration usw. Gravierende Veränderungen stellen Bestehendes auch und gerade beim Bauen vielfach in Frage. In einer zweiteiligen Beitragsfolge benennt Zukunftslotse Thomas Strobel Veränderungsmöglichkeiten und -chancen; lesen Sie hier Teil 1.

Jeder Wirtschaftszweig muss und wird sich in nächster Zeit Zukunftsfragen zu weitreichenden Veränderungsfolgen stellen, um rechtzeitig eigene Beiträge zu nachhaltigen Antworten für die Bedarfe von morgen gestalten zu können. Gerade auch die Bauindustrie als globaler Faktor für galoppierenden Ressourcenverbrauch mit hohem CO2-Ausstoß wird sich noch in diesem Jahrzehnt - vermutlich schneller als gedacht - den enormen Herausforderungen anpassen müssen.  Nachhaltige Bauwerke, modulare Bauverfahren, Werkstoffinnovationen und Gebäude für neue Nutzungsszenarien wie Vertical Farming sind weitere Stichworte dazu.

Jede traditionelle Branche ist gut beraten, heute schon vorzudenken, was morgen anders sein muss. Vor allem das Wie des Bauens wird sich verändern, weil externe Einflussfaktoren es verlangen.

Statt herkömmlichem Bauen mit nur jahrzehntelang nutzbaren Objekten und oft riesigen ökologischem Fußabdruck müssen binnen eines Jahrzehnts grundsätzliche Weichen in Richtung Langlebigkeit und Nachhaltigkeit gestellt werden. Aus der Fülle möglicher Ansatzpunkte will ich vier große Aufgaben- und Innovationsfelder für die Branche thematisieren: Ernährung der Zukunft, neue Materialien, innovative Bauteile-Fertigung und smarte Betonfertigteile mit nutzungsnaher Funktionsintegration. Doch zuvor wenige Sätze zu Arbeit und Nutzen eines Zukunftslotsen.

1 Zukunftslotse erleichtert Kursbestimmung

Als Zukunftslotse im Auftrag von Industrieverbänden und Mittelstandsunternehmen beschäftigen mich ganz praktische Fragen zu geschäftsstrategischen Folgen von Zukunftsbedarfen. Für ein tragfähiges Gesamtbild arbeiten wir daran methodisch strukturiert mit allen Sichtweisen eines Teams, das mit Personen besetzt ist, die für die Zukunft Neugierde und Gestaltungswillen mitbringen. Was zum Beispiel sagen uns für den Bereich Bau und Immobilien, ein, zwei Dutzend heute schon im 360 Grad-Rundumblick erkennbare Trends wie Bevölkerungswachstum, Demografie, Urbanisierung knapper werdender Bausand, nachwachsende Rohstoffe, Werkstoffinnovationen, 3D-Druck, fragwürdige weltumspannende Logistikströme, Treibhausgasemissionen, Klimaerwärmung usw.?

Welche Fragestellungen, Handlungsoptionen und strategische Ableitungen ergeben sich daraus? Welche Weichen in Richtung neuer Geschäftsprozesse müssen gestellt werden? Was genau sind heute die Folgeschritte dieser Erkenntnisse, damit uns die nahe Zukunft nicht eiskalt auf dem falschen Fuß erwischt? Alle diese Fragen und Antworten bilden das Fundament, auf dem zukünftige Wettbewerbsvorteile gestaltet werden können. Als Zukunftslotse arbeite ich für mit Bedacht planende Organisationen also ähnlich wie ein Lotse auf einem Schiff: als temporäre Unterstützung für einen sicheren Kurs durch schwierige Gewässer.

Der praktische Nutzen für meine Auftraggeber ist, dass wir gemeinsam - auf der Basis meiner eigenen Industrie- und Projekt-Erfahrungen mit Trendauswertung und Strategieentwicklung - zukunftsrelevante Handlungsoptionen strukturiert erarbeiten. Dazu begleite ich interdisziplinäre Teams methodisch und inhaltlich auf einer Zeitreise mit dem Ziel, anschließend eine sichere Route durch die Untiefen und Hindernisse der nächsten 15 bis 20 Jahre zu suchen. Die Erfahrungen und Ideen aller Mitwirkenden bündeln dabei verschiedenste Perspektiven und ermöglichen Schlussfolgerungen aus einem gemeinsam erarbeiteten Zukunftsverständnis.

2 Betonelemente: Aufgaben- und Innovationsfelder

Die wichtige Fragenkette dabei ist: Was „können“ Fertigteile wie Betonplatten, Pflaster, Formsteine, Tröge, Wand- und Deckenelemente usw. heute, was erwarten oder brauchen die Anwender morgen und welche Marktpotenziale und Geschäftschancen verbergen sich dahinter? Dazu möchte ich mit einem zukunftsbasierten Außenblick als Impulsgeber Themen beschreiben, die sich für die oben skizzierte Betrachtung aus schon heute sichtbaren Trendwirkungen förmlich aufdrängen. Denn sie betreffen mittelfristig Beton- und Fertigteile in ihrer gesamten Vielfalt von Bauteilen im Hoch-/Tiefbau über Wassermanagement bis Landwirtschaft und Gartenbau. Vier Themen zeigen beispielhaft diesen Außenblick auf Veränderungserfordernisse des Hochbaus und damit erwartbare Bedarfe von morgen.

Ich kann das natürlich nicht mit der Kompetenz eines Bauingenieurs tun, der dafür womöglich gleich eine Technologie aus der Tasche zieht bzw. seine Bedenken anmeldet. Ich verstehe mich vielmehr als externer Impulsgeber. Dafür biete ich folgende inhaltliche „Stellschrauben“ an, abgeleitet aus heute schon sichtbaren Zwängen, die aus einer ferneren Zukunft in die Gegenwart herüberwinken.

3 Ernährung der Zukunft

Spezielle Bauten für die Landwirtschaft, darunter Siloanlagen, Speicher und Hallen für Tierhaltung und Lagerung von Agrarprodukten, werden auch in Zukunft benötigt und gebaut. Heute noch in der absoluten Nische, wird es zu den  Stichworten Urban und  Vertical Farming gerade in Ballungsräumen Bauteile für diese neuartige Nahrungsmittelproduktion geben müssen. Mit Blick auf diese neue Landwirtschafts- und Bau-Dimension stellt sich die für beide Branchen nicht gerade folgenlose Frage: Welche Beiträge können Betonfertigteile zu solchen Anbaulösungen der Zukunft liefern? Wenn wir ehrlich sind, haben wir noch wenig Greifbares in der Hand, wie solche Lösungen geplant, gebaut und betrieben werden sollen, obwohl das Großthema bald vor der Tür stehen wird.

Will man diesen Zug nicht verpassen, muss sich die Baustoffindustrie zunächst einmal „aufschlauen“. Was ist Vertikal Farming, wie sehen mögliche Systeme aus, welche Parameter für Wachstum müssen dabei beachtet werden, wie erfolgt die Pflanz-, Ernte- und ggf. auch Verarbeitungslogistik unter einem Hochhausdach? Folglich werden wir Bauelemente für Baukastensysteme benötigen, die – je nach Gemüse, Frucht oder Anbauplan – unterschiedliche Wachstumsbedingungen durch Raumtemperatur, Luftfeuchtigkeit, Licht, Bodentemperatur, Wasser- und Nährstoffzufuhr usw. ermöglichen.

Die Bauindustrie als komplexer, lebendiger Organismus wird wachstums- und nachhaltigkeitsbedingt mehr denn je mit bisher „artfremden“ Branchenforschern aus den Bereichen Agrar, Biologie, Chemie, KI, Energetik, Elektronik, Textil usw. für praxistaugliche Zukunftslösungen zusammenarbeiten müssen.

Davon abgeleitet und mit Blick auf die Funktionsintegration in Bauteilen müssen Antworten gefunden werden, welche Sensoren für die Überwachung und welche Aktoren für die Steuerung und Versorgung bereitgestellt und in Fertigteile integriert werden können. Wichtig erscheint mir auch diese Vorüberlegung: Welche Baukastensysteme machen Urban und Vertical Farming in der Umsetzung modularisier- und skalierbar? Und: Welches Know-how aus Biologie, Landwirtschaft, Automatisierung und IT muss in die erfolgreiche Entwicklung solcher Module frühzeitig eingebunden werden?

4 Was sagt die 360 Grad-Perspektive?

Wir wissen alles zumindest schon intuitiv: Die Ernährung der Zukunft muss sich wandeln: frischer, gesünder, mehr pflanzliche Ernährung statt Fleisch und Fisch. Zudem ist es längst geboten, die Logistikwege für Produkte und Verpackungsmittel drastisch zu reduzieren. 2035 wird kein Joghurt mit all seinen Zulieferbestandteilen noch 9.000 km, wie es Raumplanerin Stefanie Böge schon 1992 errechnet hatte, weit transportiert werden; solche Entfernungen verbieten sich nicht nur aus logistischen Gründen, sondern auch wegen der bevorstehenden Renaissance lokaler Wirtschaftskreisläufe. Die Produktion gerade in Groß- und Megastädten rückt bis dahin näher an den Verbraucher im urbanen Raum – bei immer weniger Ackerfläche. Zudem wird sich der Nahrungsmittelbedarf nach heutiger Erwartung bis 2050 weltweit knapp verdoppeln …

Entsprechend neue Funktionsmodule – auch aus Beton mit geeignetem „Innenleben“ – werden benötigt, um einen flexiblen, skalierbaren Aufbau von automatisierten vertikalen Produktionssystemen zu gewährleisten. Worum geht es dabei unter anderem? Beispielsweise um erdlose Pflanztröge und -taschen mit Aquaponik-Lösungen, die ständig mit Wasser und Nährstoffen versorgt werden müssen und integrierte Beschickungs- und Entsorgungssysteme erfordern. Ferner geht es auch um die artgerechte Haltung von Kleintieren wie Hühnern in der Vertikalen, um täglich frische Eier in der Stadt zu haben.

Allein solche Überlegungen machen es erforderlich, für Zukunftsstädte mit Folgewirkung beispielsweise auf den „normalen“ Fassadenbau, ganz spezifisch über smartes, modulares Bauen nachzudenken. Eine konstruktiv geplante Integration an Fassaden oder Gebäudeabschnitten von Neubauten bietet den Vorteil, dass sie Funktionen wie Abschattung & Kühlung des Gebäudes sowie Luftverbesserung, Feinstaubbindung, etc. im Außenraum unterstützen und mit dem Wachstum von Biomasse oder Lebensmitteln verbinden kann.

Wer auch in Mitteleuropa - mit noch ausreichender horizontaler Anbaufläche - frühzeitig Verständnis für die Farming-Systeme von morgen und die damit verbundenen Nutzungsanforderungen aufbringt, kann wie die Produzenten von Umwelttechnik hierzulande, marktführende Positionen mit guten Exportchancen erlangen. Aufgabe wird es sein, zusammen mit bau“fernen“ Fachrichtungen wie Biologie, Biotechnologie, Agrar und Mechatronik Fertigungskonzepte für die automatisierte Herstellung von funktionsintegrierten Modulen mit geeigneter Anschlusstechnik und Interfaces zu entwickeln.

5 Bauteilfertigung in der Fabrik, Baustelle als Montageplatz

Allein schon aus der Verpflichtung, dass das Building Information Management BIM mit Start des Jahres 2021 für die Planung und Umsetzung von Großprojekten im Verkehrs- und öffentlichen Infrastruktursektor genutzt werden muss, folgt möglicherweise bald eine Revolution der Bauindustrie. Denn analog zu CAD/CIM im Maschinenbau bietet der „digitale Zwilling“ eines Bauwerkes dann die Grundlage dafür, ein Gebäude aus funktionsintegrierten Bauelementen zu planen, die anschließend unter Fabrikbedingungen gefertigt werden können. Nach der Erstellung des Gebäudefundamentes auf der Baustelle, wäre diese anschließend der Montageort für die analog zur Automobilfertigung „just-in-sequence“ fertig angelieferten Funktionselemente.

5.1  Was sagt die 360 Grad-Perspektive?

Die Gebäudeplanung entwickelt sich auf der Grundlage von BIM immer stärker in Richtung von Konstruktions- und Fertigungsprozessen wie sie mit CAD und CIM aus der produzierenden Industrie schon länger bekannt und etabliert sind. Folglich wird das Gebäude von morgen ab Planungsbeginn bis zum Abriss einen digitalen Zwilling haben – der ist auch Grundlage für Simulationen vor dem Bau und in der Nutzung sowie für die Gebäudesteuerung.

 Eine Fertigung von Modulen in der Fabrik erlaubt – bei hoher Automatisierung eine wetterunabhängige Produktion über 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr. Dabei können in die dafür erforderlichen Arbeitsgänge (halb)automatisiert auch smarte Funktionen wie Leitungen, Steckdosen, Lichtschalter, Rohre, Aktoren für die Steuerung von Fenstern und Türen - Voraussetzung für eine Zentralverriegelung -  bzw. in Böden, Wände und Decken integrierte Heizung/Kühlung eingebracht werden. Damit mutiert ein vorbereitetes Baugrundstück zu einem Montageplatz für zeitgerecht gelieferte Module – in der Praxis werden von Planungsbeginn bis Übergabe Bestzeiten von zehn Wochen erreicht. Die infolge des Coronavirus in Rekordzeit aus dem Boden gestampften Krankenhäuser von Wuhan basieren auf solchen Fertigungstechnologien.

Handwerk eines Zukunftslotsen: Zukunftsblick mit Methode

Über welchen speziellen „Werkzeugkasten“ verfügt ein Zukunftslotse? Mittels Retropolation - methodisch ist das ein weiter Blick in die Zukunft 2050, gefolgt von einem Rückblick auf die nähere Zukunft 2030 – begibt sich der Autor mit interdisziplinär und alters- wie erfahrungsmäßig sehr unterschiedlich besetzen Teams auf eine Zukunftsreise.

Ziel könnte zum Beispiel auch für die Betonfertigteilndustrie sein, auf Grundlage einer zu erstellenden Zukunftslandkarte neue Bedarfe und Geschäftsmodelle von und für morgen unter den Prämissen neuer Kundennutzen, Nachhaltigkeit und Ökologie abzuleiten. Absehbare technologische Veränderungen sollten dabei von innovativen Unternehmen als Chancen für ihre aktiv gestaltete Zukunftsfähigkeit genutzt werden, damit sie nicht zu disruptiven Risiken werden. Denn das ist die Stärke von branchenfremden Neueinsteigern, wie es die Automobilbranche im Fall von Tesla gerade erlebt: Die an sich nicht schlecht, aber strategisch inkonsequent, auf neue Technologien und neue Mobilitätsbedürfnisse vorbereitete traditionelle Fahrzeugindustrie, wird seit 2012 von einer seit Jahren absehbaren Zukunft überrannt und unnötig kurzfristig in einen Transformationsprozess gezwungen, bei dem der Verlierer fast schon feststeht.

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