Funktionselement statt Platte pur – Fertigteile mit Innenleben (Teil 2)

Die Veränderungsjahrzehnte sind angebrochen: Klima, Ernährung, Gesundheit, Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Demografie, Migration usw. Gravierende Veränderungen stellen Bestehendes vielfach in Frage. In diesem zweiten Teils des Beitrags widmet sich Zukunftslotse Thomas Strobel dem Thema Betonfertigteile: Weitere Aufgaben- und Innovationsfelder.

Im ersten Beitrag (BFT 4/2020, S. 52 ff.) hatten wir gesehen: Große globale Trendthemen wirken mit aller Kraft und mit hoher Veränderungsgeschwindigkeit auch auf die Betonelemente-Industrie ein. Am Beispiel Ernährung der Zukunft und der seriellen Betonteilevorfertigung in der Fabrik (auch für Brücken) hatten wir erste Aufgaben- und Innovationsfelder beispielhaft benannt, nach denen die Anwender von morgen Ausschau halten werden. Auch die beiden folgenden Beispiele – neue Baustoffe und die Funktionsintegration ins Element hinein betreffend – sollen dazu ermutigen, frühzeitig nach Marktpotenzialen und neuen Geschäftschancen Ausschau zu halten.

1 Neue Materialien

Wir haben es bei Textil gesehen: Plötzlich „verheiratet“ sich die Branche technischer Textilien mit IT und Elek-tronik, um mit Smart Textiles (intelligente Textilien) eine neue Werkstofffamilie zu schaffen. Auch Baustoffhersteller erhalten durch Textilintelligenz jetzt die Möglichkeit, die Beschaffenheit beispielsweise von Betonelementen oder Mauerwerk mittels innen verbauter textiler Sensorik permanent zu überwachen. Wen also, um im Bild zu bleiben, „ehelicht“ die Fertigteilindustrie der Baubranche demnächst? Auf alle Fälle sollten sich Technologieexperten aus solchen Feldern wie Klima- und Lichttechnik ebenso angesprochen fühlen wie Spezialisten, die sich auf sensorisches Messen und Erfassen von Daten oder auf Energieerzeugung/-speicherung verstehen.

Zu den Anforderungen von morgen passen Lösungen von gestern nur bedingt. Wer Zukunft gestalten will, muss Erfahrungswissen und Trendverständnis vorausschauend miteinander verbinden – methodisch am besten in Begleitung eines erfahrenen Experten aus dem Kontext Zukunftsvorschau und Strategieentwicklung.

Für zukunftsgerichtete Innovationen rund um Baustoffe für eine Kreislaufwirtschaft, die idealerweise langlebig, haltbarer und voll recycelbar sein sollten, braucht es generell neue Werkstoffe oder Hybride – also eine praxisnahe Kombination für leistungsfähige Materialien. Die Neuen sollen dem allgemeinen Trend der Funktionsintegration (selbstreparierende Faserverstärkungsstrukturen, Farbwechseltapeten oder heizende Betonelemente) folgend, möglichst dabei noch flexibel und intelligent – vielleicht auch situativ austauschbar – sein.

2 Zukunftslandkarten als Navigationsinstrument

Schneller Wissenszuwachs, beschleunigte Entwicklungen bei Technologien und Innovationen sowie individuellere Kundenanforderungen steigern die Komplexität, die Unternehmen bewältigen müssen. Reagieren auf Veränderungen reicht jedoch oft nicht mehr aus, „vorausschauendes Fahren“ wird deshalb zur Notwendigkeit für dauerhafte Unternehmenserfolge und zufriedene Mitarbeiter.

Ziel der Arbeit mit Zukunftsszenarien ist es deshalb nie, ein Bild zu beschreiben, das später genauso eintrifft. Deshalb arbeite ich als Zukunftslotse bevorzugt mit Zukunftslandkarten in Form von Mind Maps. Darin werden bekannte und vorstellbare Trends miteinander zu einer gesamtheitlichen Sicht einer möglichen Zukunft verknüpft. So wird nachvollziehbar, welche Trends sich gegenseitig verstärken, welche sich hemmen oder sogar ausschließen. So kommt man schließlich zu völlig neuen Geschäftsideen, einer Vorstellung über Bedürfnisse der Kunden von morgen und neue attraktive Zukunftsmärkte.

Wer also sollte systematische Zukunftsarbeit betreiben? Allgemein gesagt, sind die Adressaten vor allem Organisationen, die die Zukunft heute überlegt mitgestalten wollen, statt morgen von einer ungemütlichen Gegenwart getrieben zu werden. Im Speziellen sind das Menschen in verantwortlichen Positionen (Verbandschefs, Unternehmer, politische Entscheider in Kommunen und den Bundesländern), die bereit sind, Zukunftslösungen und -konzepte mit 360°-Rundumblick zu entwickeln.

Drei Entwicklungen, die in diese Richtung gehen, kommen aus Sachsen, NRW bzw. Berlin/Brandenburg: Textil-, Recycling- und Geopolymerbeton.

2.1 Textilbeton

Der originär deutsche Beitrag für nachhaltigen und leichteren Beton hat an der TU Dresden vor fast 25 Jahren, fortgesetzt durch Forschungsarbeiten an der RWTH Aachen, seinen Anfang genommen. Die Basisinnovation, die bisher immer noch nicht aus dem Prototypenstadium bzw. Refer-enzbauten wie Fußgängerbrücken mit Einzelfallgenehmigung hinausgekommen ist, wurde 2016 mit dem Deutschen Zukunftspreis des Bundespräsidenten ausgezeichnet. Inzwischen haben mehrere Akteure begonnen, Produkte und Einsatzfälle für das Material mit Faserverbundkunststoff statt korrosionsgefährdetem Baustahl zu entwickeln.

2.2 Carbonbeton

Carbonbeton für ein erstes Gebäude: Nomen est omen: An der Einsteinstraße in Dresden soll Baugeschichte geschrieben werden: Hier entsteht als Ergebnishaus des C³-Carbonbeton-Clusters, einem mit Bundesmitteln geförderten Verbund aus Industrie und Wissenschaft mit Ziel der seriellen Nutzung dieses neuen Baustoffs,  das weltweit erste Carbonbeton-Gebäude. Nach prototypischen Anwendungen u. a. bei der Gebäude- und Brückensanierung wird in nächster Zeit Cube gebaut – ein Gebäude mit einem filigranen, weil mehrfach gebogenen Betonschalen-Dach. Auf 220 m² geplant: Labor- und Präsentationsräume rund um das Generalthema Textilbeton, das zugleich ein Einstieg für den Paradigmenwechsel am Bau sein soll. Die dafür entwickelten Bauteile und Verbindungsmittel sind markttauglich. Mit Blick auf die Wirtschaftlichkeit kommen erstmals spezifische Kostenansätze, Qualitätsstandards, Materialkennwerte, Berechnungs- und Bemessungsverfahren zur Anwendung.

Weltweit erste doppelt gekrümmte Fassade: Das dekor-ative Außenelement mit textiler Bewehrung kommt aus NRW und trägt den Namen CurveTex. Die neue Leichtbau-Designfassade, die nur drei Zentimeter dick ist und deshalb nur 80 kg statt üblicherweise 270 kg wiegt, erhöht die Gestaltungsfreiheit und spart bis zu 80 % Beton und Zementeinsatz. Mit einem drapierfähigen Bewehrungstextil als Kern verhilft sie Architekten zur einem Mehr an gestalterischer Vielfalt.

Extrapolativ (also erfahrungsbasiert) gedacht, ist die Bauindustrie robust und zukunftssicher aufgestellt. Doch aus retropolativer Sicht (von einer weiteren Zukunft „zurückgeblickt“ auf eine nähere Zukunft) ist die Sparte höchst anfällig. Ein erfolgreiches Weiter so wird unwahrscheinlicher als revolutionäre Brüche.

2.3 RC- und Geopolymerbeton

Auf der jüngsten bautec hat die Beton und Naturstein Babelsberg GmbH (BNB) Demonstrationsprodukte aus zertifiziertem Recyclingbeton (RC) und aus Geopolymerbeton (G-Beton) – beide mit verbesserter Treibhausgas-Bilanz produziert – ausgestellt. Mit RC-Beton bekommt das Primärmaterial für Fahrbahnen, Fundament oder Geschossdecken eine zweite Chance in Form hochwertiger Design-Produkte. Jährlich fallen allein in Berlin fünf Millionen Tonnen Bauschutt an, ein Fünftel davon ist Beton. Praktisch noch laborwarmer Geopolymerbeton kommt bei denselben Produktlinien in Zusammenarbeit mit der TU Berlin zum Tragen: Der kalklose und damit CO2-arme G-Beton steht in der Tradition des antiken und besonders langlebigen Römerbetons. Heute jedoch ersetzen u. a. Wasserglas und Aluminiumsilikat als alternative Bindemittel die damals verwendeten Materialien wie Kaolin-Ton oder Vulkanasche.

Was sagt die 360°-Perspektive? Was vor Jahren schon in Leipzig an einer Hochschule entwicklungsseitig umgesetzt wurde, bietet über die Klimatisierung hinaus weiteren Nutzwert: eine Betonwand mit textiler Flächenheizung. Mit integrierten Schlauchstrukturen ausgerüstet, könnten massivere Bauteile gleichzeitig auch als Wärme- oder Kältespeicher fungieren. Integrierte Lichtleiter im Beton würden zudem leuchtende Wand- und Deckenelemente mit einstellbaren Lichtfarben und dimmbarer Helligkeit erlauben.

Ein weiterer Fingerzeit in die Zukunft ist die Nutzungsdauer von Gebäuden. 50 Jahre, wie derzeit üblich, sind perspektivisch aus Ressourcengründen zu kurz gedacht. Wir müssen also mittels nicht rostender Baumaterialien und über modulare Bauweise erreichen, dass sich die durchschnittlichen Standzeiten verdoppeln oder gar vervierfachen. Das verlangt nachhaltige Konzepte mit Anknüpfungspunkten für Mehrfachnutzung. Gebäude von morgen werden zudem integrierte Energiegewinnungs- und -speicherungskonzepte aufweisen müssen; inklusive Regenwassermanagement und Mehrfachnutzung von Grauwasser. Fassaden- und Abschattungselemente mit Photovoltaik sind erste Schritte dahin, Zisternen als Wärmespeicher ein weiterer. Die Werkstoffoptimierung muss zukünftig dem Einsatzzweck angepasst werden: extrem haltbar für langlebige Bauten und Bauteile, besonders umwelt- und recyclingfreundlich für Anwendungen mit kürzerer, geplanter Nutzungszeit.

3 Smarte Betonfertigteile und Funktionsintegration

Welche Potenziale haben Betonfertigteile in smarten Gebäuden der Zukunft? Erkennbar ist, dass smarte Grundfunktionen wie Zentralverriegelung oder automatisiertes Lüften, Aktoren und Sensoren erfordern werden. Die für die Ansteuerung notwendigen Strom- und Signalleitungen lassen sich zukünftig ebenso in ein Betonfertigteil integrieren wie beispielsweise Flächenheizungen an der Innenseite oder Solarwärmekollektoren an der Außenfläche. Und der heute schon witterungsunabhängige Produk-ionsprozess für Betonfertigteile bietet die besten Voraussetzungen dafür, die Bauteile für morgen mit der geplanten Funktionalität und Intelligenz an die Baustelle zu liefern.

Was sagt die 360°-Perspektive? Die pure Betonplatte war gestern. Die Funktionsintegration ist Voraussetzung für alles, was später in einem Gebäude automatisiert und nachhaltig gesteuert werden soll. Das smarte, nachhaltigste Bürogebäude der Welt „The Edge“, das mehr Energie produziert als es verbraucht, gibt einen Vorgeschmack darauf. Es steht in Amsterdam und schafft Raum für Flexibilität am modernen Arbeitsplatz. Das smarte Gebäude weist Arbeitsplätze zu, der Mitarbeiter steuert individuell mit App seine Arbeitsumgebung; individueller Komfort hilft beim Stromsparen; intelligentes Facility Management in Form von 30.000 Sensoren im gesamten Gebäude bringen das Internet der Dinge an den Arbeitsplatz.

Wenn die in Glasflächen integrierten Solarzellen an Fassaden zukünftig Strom liefern sollen, muss das sowohl für die Ausrichtung der Flächen als auch für die Verdrahtung bereits in der Planung und Produktion der tragenden Betonstruktur berücksichtigt werden. Auch empfiehlt es sich, intelligente Bauteile mit Sensorik und Aktorik von vornherein als Lösungen in Baumodule zu integrieren, damit Funktionen wie selbstschließende Fenster bei Regen oder Sturm, Temperaturausgleich im Gebäude durch automatisches Öffnen und Schließen von Türen möglich werden.

Wir haben hier lediglich einige Faktoren angerissen; Zukunftslandkarten mit Blick auf die Zukunft von Betonbauelementen müssten auch solche Einflusskriterien wie weitere Werkstoff-Innovationen im Hinblick auf nachwachsende Rohstoffe, bionische Konstruktionsprinzipien zur Werkstoffeinsparung, update-fähige Gebäude durch die Kombination besonders langlebiger Tragstrukturen mit austauschbaren Modulen, die abhängig von Nutzungsbedarf und aktueller Technik gestaltet werden oder neue Anwendungen von Funktionsintegrationen wie eisfreie Wegeflächen, Luftreinigung, Energy Harvesting, Underground Farming oder Gebäudeautarkie berücksichtigen.

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